Kronen Zeitung - 24.09.2012

Detailaufnahme aus dem Überfluss

Ein Tag und eine Nacht: Selbstversuch im Marathon-Camp des "steirischen herbst"



Es wuchert wild beim "steirischen herbst". Und damit sind nicht nur die Aktionen einiger KünstlerInnen mit grünem Daumen gemeint. Vielmehr sprießt das Marathon-Camp nur so vor kleinen und großen, wilden und milden, realistischen und utopischen Ideen. Wir haben einen Tag und eine Nacht im Camp verbracht.

Was kann, darf und muss man als Aktivist und Künstler tun, um Veränderung herbeizuführen? Wann geht man zu weit? Wann nicht weit genug? Es sind Themen, die einem im Camp immer wieder begegnen - ob nun in offiziellen Diskussionsrunden oder an der Bar. Hinterfragt werden nicht nur gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Strukturen, sondern auch die eigene Verwicklung in eben diese - als KünstlerIn,CHRISTOPH HARTNERAktivistIn, JournalistIn und Individuum.

In einer herrlich ironiegetränkten Performance über den Reichtum seiner norwegischen Heimat stellt Amund Sjølie Sveen seine eigene Rolle als Künstler in den Mittelpunkt. Auf den Cent genau hat er berechnet, wie viel Rohöl der norwegische Staat fördern, raffinieren und verkaufen musste, um ihn als Künstler großzügig zu unterstützen - und kann so den CO”-Gegenwert seiner Kunst nennen.

Gegen Mitternacht beginnen im Camp die Nachtschattengewächse zu blühen. Es wird gelacht, getanzt und ja, auch getrunken. Und in Annie Dorsens Karaoke-Bar ist viel los: Hier werden allerdings keine Klassiker der Popgeschichte geträllert, sondern Auszüge aus einigen der einflussreichsten politischen Ansprachen: der Aufruf zum ersten Kreuzzug von Papst Urban II, Charlie Chaplins Monolog aus "Der große Diktator" oder das Verteidigungsstatement von Pussy Riot. Und wie beim regulären Karaoke, ist auch hier der Fremdschämfaktor nicht zu missachten.

Mittlerweile ist es 3 Uhr und nur noch Hartgesottene sitzen in der Bar und diskutieren. Wer nicht nach Hause gegangen ist, verzieht sich in eine der Schlafkojen. Lang darf das Nickerchen allerdings nicht dauern, will man mit dem Theater im Bahnhof das frühmorgendliche Graz erleben. Das TiB hat täglich einen Gast geladen, der einen unbekannten Blick auf Graz wirft: Mit dem Pariser Hausbesetzer-Kollektiv Jeudi Noir konnte man sich Gedanken über die Nutzung leer stehender Objekte und des öffentlichen Raums machen.

Spannende Begegnung am frühen Morgen

Während ein neuer Tag über dem Horizont anbricht, verbiegt sich Tänzerin Sri Louise bereits beim allmorgendlichen Yoga. Manche sind hier, um nach der intensiven Nacht beim Yoga die Ruhe für ein bisschen Schlaf zu finden. Andere nutzen die Übungen, um frisch in den neuen Tag starten zu können. Hier wird klar: Niemand muss den Marathon allein bewältigen, man würde es auch nicht schaffen. Die Stärke des Camps liegt darin, dass es eine Gesellschaft bildet, in der nicht wichtig ist, ob und mit welcher Zeit man ins Ziel kommt. Es zählt, dass man die Staffel weiterträgt.


Christoph Hartner
wukonig.com