Die Presse - 22.09.2012

gegenGIFT

Avantgarde hat wieder Saison. Lässt sie sich gar wieder stärker politisieren? Occupy besetzt das herbstliche Graz



Den steirischen herbst besuche ich seit 1977 regelmäßig, mit gemischten Gefühlen von Demut, Neugier und Nostalgie. Erstere überkommt mich deshalb, weil ich spätestens beim Überqueren der Mur am Kunsthaus draufkomme, wie wenig ich kenne. Wenn ich die neue Herbstkollektion an Progression dann kennengelernt habe, begreife ich langsam, wie wenig ich davon weiß.

Heuer zum Beispiel beginnt das Fest multikultimedial mit einem konzentrierten Camp, das sich mit Vorträgen, Performances, Ausstellungen und viel Musik über 150 Stunden erstreckt. 250 Künstler sollen sich daran beteiligen. Wer soll das erfassen? Sicherheitshalber bestelle ich noch einen Espresso, während die Präsentation der herbst-Schau "Adaptation" am Opernring begonnen hat. Gegenüber streckt sich bereits vor der Straße mächtig ein Kunstwerk aus Fensterrahmen und Türen gen Himmel. Nebenbei versenke ich mich ins Programmheft, das immer noch nach Post-Histoire, Dialektik und Leim riecht, wie es sich für "Theorie und Praxis" gehört.

Beim Blättern werde ich nostalgisch. Wann habe ich das letzte Mal das Wort "Kollektiv" gehört? Das muss in der späten Ära Kreisky gewesen sein. Aus "Aktion" ist inzwischen "Aktivismus" geworden. Das Heft verspricht Einmischung in turbulenten Zeiten. Sogar ein Zitat von Brecht oder Lenin oder Hegel oder Augustinus ist prominent als Leitmotiv platziert: "Truth is concrete", wird behauptet. Das ist mir zu abstrakt. Was, wenn die Wahrheit nicht aus Beton, sondern sinfonisch wäre? Es geht dem herbst um Strategien, gegen Kapitalismus, um Widerstand. Unter den Mitwirkenden dürften recht viele Globalisierungsgegner sein: Occupy besetzt Graz.

Neugierig gehe ich durch die Räume. Das Fremde wird vertraut. Eine Installation sieht aus, als hätte man eine WG aus den frühen Achtzigerjahren nachgebaut. Die Wände sind intensiv bekritzelt: "I am orna-mental", steht auf einem roten Tuch. An einer Wand: "I am antiartist." Gegenüber: "I open my mouth to say art." Darüber denke ich zwölf Minuten nach, während die Übrigen bereits in den nächsten Raum mit Kunst aus Afrika, Asien oder gar Europa geeilt sind. Ich öffne meinen Mund und frage die einzige Person, die neben mir zurückgeblieben ist, wie ihm das rote Tuch gefällt. Es ist der Künstler, der mir bereitwillig ein Autogramm in einen Katalog mit seinen herbst-Notizen malt.


Norbert Mayer
wukonig.com