Kleine Zeitung - 03.10.2012

Die Wahrheit ist Beton

"Ist der Umgang mit der Kunst Maßstab für die Freiheit einer Gesellschaft? Herrscht Toleranz oder nur bodenlose Ignoranz?"



Im ≥steirischen herbst„ gab es ein provisorisches Camp. Dort, wo die Thalia seit Jahren in einem permanenten Provisorium Grazer Prägung umgebaut wird. Die Thalia ist die Muse der komischen Dichtung, im ≥herbst„-Feldlager aber sollte Ernst gemacht werden mit der Einheit von Politik und Kunst. ≥Truth is concrete„ (Die Wahrheit ist konkret) heißt das Motto. In anderer Übersetzung: Die Wahrheit ist Beton. Der Doppelsinn stellt den Befund ironisch in Frage.

Die Wahrheit ist immer die Wahrheit der jeweils Wahrnehmenden, die wahrnehmen, was sie wahrnehmen können. Diese Wahrheiten fügen sich kaum jemals zu einem bruchlosen Ganzen. Und so hat man sich nicht erst seit der Postmoderne ohne Trauer von der einzigen, allgemein gültigen Wahrheit verabschiedet. Nur fundamentalistische Betonköpfe reklamieren noch die Wahrheit für sich.

Vom ≥Arabischen Frühling„ bis zur ≥Occupy„-Bewegung wurden öffentliche Räume besetzt, die der Öffentlichkeit bezeichnenderweise nicht zur freien Verfügung stehen. Diese weltweiten Proteste fanden in Österreich ˆ im Gegensatz zu Deutschland ˆ keine Nachahmer. Außer auf der symbolischen Ebene der Kunst. Das Camp im ≥steirischen herbst„ konnte als zeitverschobene österreichische Antwort aufgefasst werden.

Einigen der internationalen Gäste wird ihr künstlerischer Aktivismus in ihren Heimatländern als Gesetzesbruch ausgelegt. Die ukrainische Feministinnengruppe ≥Femen„ protestiert gegen Sexismus paradoxerweise durch Entblößung. Die Fotos davon gehen um die Welt. Reverend Billy parodiert in seiner ≥Church of Stop Shopping„ den Ablasshandel in religiösen Fernsehshows und wird inhaftiert, wenn er etwa eine Teufelsaustreibung an einem New Yorker Bankomaten vornimmt. Im Grazer Kunsthaus verschüttete er in einer unangemeldeten Aktion ein wenig Öl, um auf die Ölgeschäfte eines Sponsors, einer Bank, hinzuweisen. Die Exekutive schritt nicht ein. In einer Stellungnahme versicherte die Intendantin, der ≥herbst„ habe die Provokation ≥weder forciert noch verhindert„.

Ist der Umgang mit Kunst wirklich ein Maßstab für die Freiheit einer Gesellschaft? Herrscht bei uns Toleranz oder nur bodenlose Ignoranz? Denn im Kunstkontext darf sich die ohnmächtige Wut der Gesellschaftsmitglieder auf unhaltbare Zustände hierzulande nicht nur unsanktioniert, sondern sogar subventioniert austoben. Mit ausdrücklicher Unterstützung der öffentlichen Hand und der geneigten Sponsoren. Die Futterhand wird gebissen und bedankt sich streichelnd dafür. Freilich weiß die Hand nicht genau, was das Streichelzootier tut. Die Wahrheit ist ein Schleier auf den gesellschaftlichen Widersprüchen.

Günter Eichbergerlebt als freier Schriftsteller in Graz



GÜNTER EICHBERGER
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