medianet - 07.09.2012

Alles ist anders, aber die Wahrheit sehr konkret

Gesucht werden künstlerische Strategien in der Politik und politische Strategien in der Kunst.



Graz. Beim steirischen Herbst ist dieses Jahr alles anders. Keine Eröffnung im gewohnten Rahmen, und auch der Ausstellungsrundgang findet nicht am ersten Wochenende statt. Dafür gibt es z.B. ein einwöchiges "24/7-Marathon-Camp„ mit Programm rund um die Uhr. Geschuldet sind diese Adaptionen den rasanten weltweiten Veränderungen. "Die Welt hat sich in den letzten Jahren drastisch verändert - und damit stellt sich auch die Frage nach Kunst und Politik neu, wie sie es in den Jahrhunderten zuvor immer wieder getan hat. Bei unseren Recherchen an Orten wie Tunis nach der Revolution, Kairo während der Demonstrationen, New York zu Beginn von Occupy, Japan nach der Nuklearkatastrophe hat sich immer wieder gezeigt: Künstler sind unter den Ersten, die sich an vorderster Linie engagieren. Aber: Als Bürger oder als Künstler? Muss/kann Kunst in solchen Situationen auch ein Werkzeug sein, nützlich sein? Oder kommt sie erst hinterher, wenn es ums anschließende Reflektieren geht. Solche Fragen sind elementar dafür, welche Rolle Kunst in unserer Gesellschaft spielen kann und soll„, erklärt Florian Malzacher, leitender Dramaturg des Festivals und Mastermind des Marathon-Camps "Truth is concrete‰.
Künstlerische Strategien
Und so macht sich der diesjährige herbst unter dem Motto "Die Wahrheit ist konkret!„ auf die Suche nach künstlerischen Strategien in der Politik sowie nach politischen Strategien in der Kunst. Im Zuge des Marathon-Camps werden rund 150 Künstler, Aktivisten und Wissenschaftler Tag und Nach vortragen, performen, spielen, produzieren, debattieren und sammeln. Darunter die Philosophin und Demokratietheoretikerin Chantal Mouffe, Antanas Mockus, Philosoph und legendärer ehemaliger Bürgermeister von Bogotá, der mittels künstlerischer Strategien das Selbstbewusstsein einer hochkriminalisierten Millionenstadt verändert hat, oder Srda Popovic, zentrale Figur der Studentenbewegung ≠Otpor!Œ, die den serbischen Diktator Milosevic zu Fall brachte, und zahlreiche mehr. Weshalb man auf dieses Format setzt, erklärt Malzacher so: "Zum einen glauben wir, dass es in einer extrem bewegten Zeit auch einer extremen Geste bedarf. Dieser 150stündige Marathon bietet die Möglichkeit, sehr viele Künstler, Aktivisten, Theoretiker und Publikum zusammenzubringen. Es ist auch eine Art Bestandsaufnahme, ein Werkzeugkasten vielleicht: Welche Strategien und Taktiken haben wir, um uns in das politische Geschehen aktiv einzumischen.„
Herbst-Ausstellung
Eingebettet in das Setting dieses Camps ist auch die heurige herbst-Ausstellung - ein Labor für neue Paradigmen, Strukturen, Hierarchien, Kollaborationsformen und ein kollektiver Prozess. Die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Politik richten die Prager Ausstellungsmacher Zbynek Baladrán und Vit Havránek nicht nur nach außen, sondern vor allem auch an das institutionelle Kunstsystem bis hin zur kuratorischen Praxis selbst. Sie verstehen sich bei diesem Projekt mehr als Einladende denn als Kuratoren. In einem gemeinschaftlichen Prozess entwickeln sie nicht nur die Form, sondern auch den thematischen Schwerpunkt von "Adaptation„ zusammen mit den Künstlern. Alternative Modelle von Gesellschaft und Zusammenarbeit werden gleichzeitig konkret erprobt.
Zahlreiche Ausstellungen
Über die ganze Stadt verteilt, zeigen auch die Ausstellungen der Grazer Partnerinstitutionen ihre eigene Sicht auf das Verhältnis von Kunst und Politik. "Absolute Democracy„ untersucht z.B. kritisch das Konzept von Demokratie, wie auch die von Michelangelo Pistoletto gegründete Arbeits- und Forschungsgemeinschaft Cittadellarte im Kunsthaus Graz künstlerische Partizipation zum Ausgangspunkt einer Untersuchung demokratisch gelebter Zivilgesellschaft nimmt.
"Rebranding European Muslims‰ nennt sich wiederum ein Projekt der israelischen Künstlergruppe Public Movement - eine europaweite PR-Kampagne.
Muslimen-Branding
Eine israelische Performancegruppe, die das Image der europäischen Muslime neu branden will? Malzacher: "≠Rebranding European MuslimsŒ ist eine Inszenierung politischen Engagements, die dennoch nicht ironisch ist und sehr ernst gemeint. Muslime werden derzeit von allen Seiten neu gebranded, von links, von rechts, von sich selbst. Es geht darum, das zu zeigen und als Chance zu begreifen. Dass Israelis dieses Projekt beginnen - allerdings in Zusammenarbeit mit verschiedenen muslimischen Organisationen -, ist natürlich bewusst auffällig: Es soll auch dazu führen, das Ganze sehr bewusst zu reflektieren und sich nicht nur darauf auszuruhen, eh das Richtige zu tun.„ herbst-Programm:
www.steirischerherbst.at
Bild: "Rebranding European Muslims„ nennt die israelische Künstlergruppe Public Movement ihre internationale PR-Kampagne für eine andere europäische Kultur.

Christoph Singer
wukonig.com