Wiener Zeitung - 25.09.2012

Haarschnitt und blanke Brüste im Dienst der Politik

Der steirische herbst hat mit einer Brainstorm- und Theoriewoche eröffnet.



Graz. Das Mehrspartenfestival steirischer herbst hat am Wochenende eröffnet, nicht wie üblich mit einer Aufführung, sondern mit einer Art Theoriewoche. Das Grazer ≥Thalia„, mit Retro-Charme und Sperrholzmöbeln von den Berliner Architekten ≥raumlabor„ ausgestattet, ist das diesjährige Festivalzentrum. Dort findet die siebentägige Veranstaltung mit 24 Stunden Programm statt. Über 200 Künstler stellen Projekte aus aller Welt vor, in denen sich Kunst politisch und gesellschaftlich engagiert.

Die Bühne, in der sonst das Jugendprogramm läuft, ist zum ≥Black Cube„ umbenannt, in einem Gebäude vis-à-vis ist die ≥White Box„ untergebracht. Das Programm für das Marathon-Camp mit dem Titel ≥Truth is concrete„ findet parallel statt, wechselt mitunter im Halbstundentakt. Gelegentlich gibt es Performances, Filme, Konzerte. Öfters aber knochentrockene Präsentationen und Vorträge. Mehr Hörsaalatmosphäre als Event-Geist. Soziologiestudenten dürften sich hier augenblicklich wohlfühlen.

Aber es blitzt schon auch Originelles auf. Kein freier Platz etwa, als am Sonntag zur Mittagszeit ≥Reverend Billy & The Church of Stop Shopping„ aus New York da waren. Billy schlüpft in die Rolle eines evangelikalen Predigers. Die mitreißenden Gospels seiner musikalischen Mitstreiter ironisieren den Götzen Konsum.

Ob das allerdings klappt, mit den Mitteln der Kunst die Welt zu verändern, davon ist im ≥Truth is concrete„-Camp auffallend selten die Rede. Obwohl eine buntscheckige Gruppe von Art-Terroristen zu Gast ist und diese Frage auf vielfältige Weise umkreist.

Man geht etwa auf die Straße, wie die frauenbewegten jungen Ukrainerinnen ≥Femen„, die an öffentlichen Orten Busen zeigen und von der Polizei selten enttäuscht werden. ≥Femens„ artiger Auftritt in Graz: eine 20 Minuten-Lecture mit Mini-Demo. Als eine der Damen kurz ihr Leiberl lüftete und sich einem Knaben im Studentenalter auf den Schoß setzte, wusste der Ärmste nicht, wie ihm geschieht. Aber nach 45 Sekunden war der Spuk vorbei, das T-Shirt wieder übergezogen.

Reich trifft Arm

In der kolumbianischen Hauptstadt Bogota hat sich die Gruppe ≥Mapa Teatro„ in einem Stadtviertel engagiert, das einer Parkanlage weichen sollte. Man konnte den Abriss des Viertels zwar nicht verhindern, aber die englischen Künstler ließen die Bewohner beispielsweise Theaterspielen und haben Szenen aus dem Stadtviertel auf Bildschirme ins Museum übertragen ˆ die Konfrontation einer elitären Gesellschaftsschicht mit der Armut ein paar Häuserecken weiter.

Das hat vielleicht in Summe mehr mit Sozialarbeit zu tun als mit Kunst, aber gerade die Schnittstellen sind spannend. Ob das Projekt ≥Truth is concrete„ in seiner Überfülle an Rund-um-die-Uhr-Programm geeignet ist, entscheidende Dinge zu übermitteln? Wenn man eine Woche mitmacht, bekommt man sicherlich Anregungen. Freie Kulturschaffende, so sie sich im Publikum finden, können sich auf Jahre hinaus mit Ideen eindecken.

Ein eigenartiger Beigeschmack bleibt dennoch: All das, worüber hier mehr oder weniger trocken berichtet und theoretisiert wird, gehört hinaus auf die Straße und nicht in einen ≥Cube„, sei er nun schwarz oder weiß. Da richten einzelne künstlerische Aktionen im Stadtraum wenig aus ˆ das ≥Theater im Bahnhof„ etwa lud um fünf Uhr morgens zu Stadtspaziergängen.

Aber es gibt auch noch die ≥Hairdresser„! Sie sind bei einem Fahrrad-Mechaniker in der Klosterwiesgasse untergebracht und bieten einen Gratis-Haarschnitt an. Im Gegenzug muss man sich auf einen politischen Diskurs einlassen. Gut so.

≥Truth is concrete„: bis 28. Sept.

Info: www.truthisconcrete.org

Bild: ≥Femen„ artig: Agit-Prop aus der Ukraine in Graz . W. Silveri


Reinhard Kriechbaum
wukonig.com