Der Standard - 14.09.2012

Tod eines Wirtschaftsprüfers



Doku-Theater aus Russland: Teatr.doc verhandelt den Tod eines Häftlings, der nie eine Verhandlung erlebte. Sergey Magnitskiy starb in der Untersuchungshaft, weil ihm medizinische Hilfe verweigert wurde. Sein Todeskampf dauerte eine Stunde und 18 Minuten.

Als am 17. August 2012 die Mitglieder der russischen Riot-Grrrl-Formation Pussy Riot wegen ihres Putin-kritischen Aktionismus zu zwei Jahren Straflager verurteilt wurden, war die Programmkonzeption des Steirischen Herbstes längst abgeschlossen.

Mit dem Fall Magnitskiy thematisiert man beim Festival aber einen der wenigen Skandale, denen schon vor dem folgenschweren Muschi-Krawall-Auftritt in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale internationale Aufmerksamkeit zuteilwurde. Sergey Magnitskiy war kein Held, er war Anwalt und Wirtschaftsprüfer. Dieser Job brachte den Vater zweier Kinder ins Visier korrupter Behörden - was auch damit zu tun haben könnte, dass Magnitskiys ehemaliger britischer Arbeitgeber, Hermitage Capital, einst zu den erfolgreichsten ausländischen Investoren in Russland zählte. Heute ist das russische Imperium des Investmentfonds zerschlagen. Und Magnitskiy hat die Untersuchungshaft nicht überlebt. Dem Schwerkranken wurde die nötige medizinische Hilfe verweigert. Als er sich vor seinem Tod in Schmerzen wand, soll er vom psychiatrischen Dienst ans Bett gebunden worden sein.

Eine Stunde und 18 Minuten dauerte das Martyrium des Juristen. 1 hour 18 minutes ist auch der Titel, den das russische Theaterkollektiv Teatr.doc für seine Arbeit über den Fall gewählt hat. Regie führte Mikhail Ugarov. Die dokumentarische Theaterproduktion fokussiert nicht auf den Wirtschaftsskandal, sondern auf die Umstände von Sergey Magnitskiys Ableben.

Wie kommt es dazu, dass ein Untersuchungshäftling gequält, geschlagen und - in seinen medizinischen Bedürfnissen - zu Tode ignoriert wird? Der Abend ist eine Montage aus Quellen, deren Zusammenschau eine monströse Maschinerie der Rechtlosigkeit kenntlich macht: ein detailgenauer Blick auf die Schattenseiten im Russland der Ära Putin. Teatr.doc, ein kleines russisches Hinterhoftheater, repräsentiert beispielhaft jene widerständigen Stimmen, die beim Kahlschlag in der kritischen Öffentlichkeit Russlands übersehen wurden.

Der Rückgriff auf dokumentarische und semidokumentarische Formen des politischen Theaters erscheint symptomatisch für eine Gesellschaft, in der die kritischen Medien marginalisiert wurden, in der Unrecht nicht dokumentiert wird. Das Ensemble orientiert sich dabei stets an jener Maxime, die der Steirische Herbst heuer auch in den Mittelpunkt stellt: Die Wahrheit ist konkret. Der Fall Magnitskiy bietet sich für diese Art Kunst an - nicht wegen seiner internationalen Bekanntheit, sondern weil hier die Faktenlage - vor allem aufgrund der Hermitage-Aktivitäten - sehr gut ist. Auch er steht stellvertretend für eine Vielzahl von Unrechtsfällen, die - ohne die Kunst - unsichtbar bleiben würden.

Deutschsprachige Erstaufführung, 29. 9., 21.30, Camp

Bild: Teatr.doc erzählt den Fall eines gefolterten, zu Tode ignorierten Häftlings in einem Wirtschaftsskandal. Foto: Mikhail Guterman



Hermann Götz
wukonig.com