Kleine Zeitung - 19.09.2012

Eine kleine Einführung in die Wahrheit



Über Dummheiten, Messen, Haarverlängerungen: Am Freitag beginnt der steirische herbst. Intendantin Veronica Kaup-Hasler ergänzte für uns (kursiv gesetzt) 12 Fragen zum heurigen Programm.

1≥Truth is concrete„, das Motto des heurigen steirischen herbst, bezieht sich auf den Augustinus, Hegel, Lenin zitierenden Wandspruch in Bert Brechts Arbeitszimmer im dänischen Exil. Wenn ich das Zitat ergänzen dürfte, dann so: ≥Die Wahrheit ist konkret . . . und vielschichtig und komplex. Also nichts für Fundamentalisten.„

2 ≥Kunst ist ein linkes Hobby„, ein Satz von Geert Wilders, ist dem herbst-Programmheft als provokanter Einstieg vorangestellt. Dem extremen Rechten, der letzte Woche bei den holländischen Parlamentswahlen mit seiner ≥Freiheitspartei„ kräftig entzaubert wurde, würde ich entgegnen . . . : Wenn Kunst ein linkes Hobby ist, dann ist Dummheit rechte Arbeit. Nein, im Ernst: Das Problematische ist ja eher, wenn Kunst von einem Politiker als Hobby bezeichnet wird. Das decouvriert ihn und ähnlich Denkende, denn Kunst ist seit jeher eine Grundlage für Zivilisation und Gesellschaft. Und das ist bedenklicher als der von Wilders zitierte überholte Links-rechts-Antagonismus.

3Der steirische herbst allgemein und besonders der heurige soll sichtbar werden . . . an einer Vielzahl von Vernetzungen lokaler und internationaler Künstler- und Aktivistengruppen, die in bestehenden und zukünftigen Bewegungen weiterleben.

4Die Kampagne und Gala ≥Rebranding European Muslims„ als einer unserer Programmschwerpunkte ist leider notwendig, weil . . . wir mit zu vielen Klischees über muslimische Bürger konfrontiert werden. Wir haben vergessen, dass Österreich der erste Staat in Europa war, der vor hundert Jahren den Islam als Staatsreligion akzeptiert hat.

5Die Thalia, die gerade heftig umgebaut wird und in der heuer das 24/7-Camp aufgeschlagen wird, ist für mich . . . die spannendste Baustelle der Stadt, weil der Ort für drei Wochen zum Brennpunkt des Landes wird.

6Das Marathon-Camp über 170 Stunden mit rund 250 Künstlern, Aktivisten, Vortragenden stellt das Publikum vor die Qual der Wahl. Wenn ich persönlich nur drei Wahlmöglichkeiten hätte, dann würde ich . . . a) dafür Urlaub nehmen b) mit Reverend Billy eine Messe feiern und im Stop-Shopping-Chor singen und c) nach einer durchwachten Nacht mit dem Theater im Bahnhof um 5 Uhr früh die Stadt erkunden und danach zum Camp-Yoga gehen und erfrischt in einen langen spannenden Tag mit vielen Begegnungen eintauchen.

7Im Zusammenhang mit dem Camp gibt es unter anderem in der Klosterwiesgasse 5 einen Frisiersalon, benannt ≥Haircut before the Party„, wo man auch politisieren kann, während man Haare lässt. Unter der Trockenhaube würde ich dort am liebsten . . . über Berlusconis Haarverlängerungen und seinen Hang zu Billigprodukten im Haarfarbenspektrum sprechen.

8Doris Uhlich bringt in ihrem höchst charmanten Projekt ≥Come Back„ fünf ehemalige Balletttänzerinnen und -tänzer lang nach deren Karriereende zurück auf die Bühne, unter anderem Susanne Kirnbauer, die ab 1972 Erste Solotänzerin an der Wiener Staatsoper war. Wenn ich einmal 70 bin, wünsche ich mir auch ein Comeback . . . nach Mörbisch, Reichenau, der Josefstadt als Intendantin des steirischen herbst zu seinem 70-jährigen Bestehen ;-)

9Viele unserer Künstler, wie heuer etwa Guillermo Gómez-Peña mit ≥The Insurrected Body„ (MEX/USA), entdecke ich in Lateinamerika, weil . . . es dort Theaterformen gibt, die es hier so nicht gibt. Ich arbeite schon lange mit Künstlern aus Lateinamerika, mit denen wir neue Arbeiten entwickeln. Im Fall von Gómez-Peña, dem sinnlichen Theaterschamanen, ist es die unvergleichliche Mischung von Performance, politischer Rede, Genderthematik, die unsere Theatererfahrung auf die Probe stellt und fasziniert.

10Patrick Schnabl, seit Kurzem höchster Kulturbeamter im Land, wünscht sich den steirischen herbst dem Namen entsprechend wieder mehr steirisch, sprich: wie früher nicht ausschließlich Graz-zentriert . . . Ich teile diesen Wunsch, allerdings lassen die finanziellen Rahmenbedingungen das derzeit nicht zu.

11Nach dem herbst-Finale am 14. Oktober werde ich endlich einmal . . . mit meiner Familie nach London reisen. Und danach geht‚s wieder munter in der herbst-Planung weiter, denn nach dem Festival ist vor dem Festival.

12Und zum Schluss noch ein Satz zur allgemeinen politischen Lage im Land. Quasi mit Heinrich Heines Worten sage ich: ≥Denk ich an Österreich in der Nacht . . . , habe ich was falsch gemacht.„ INTERVIEW: MICHAEL TSCHIDA

INTERVIEW

ZUM FESTIVAL

steirischer herbst 2012 von 21. September bis 14. Oktober.

Intendantin: Veronica Kaup-Hasler.

Chefdramaturg: Florian Malzacher.

Budget: 3,6 Millionen Euro,

Sponsorenanteil 15 Prozent.

Mitarbeiter: 16, während des Festivals 72.

230 Veranstaltungen (150 im einwöchigen Camp-Marathon ≥Truth is concrete„, 80 im Restfestival).

Etwa 250 Künstler allein im 24/7-Marathon-Camp.

300 Fenster für den Festivalzentrum-Turm vor der Thalia.

Karten- und Informationsbüro im Festivalzentrum in der Thalia, Opernring 5, Graz. Tel. (0 31 6) 81 60 70.

www.steirischerherbst.at

ZUR PERSON

Veronica Kaup-Hasler, geboren 1968 in Dresden, ihre Familie übersiedelte 1970 nach Wien.

Studium: Theater- und Politik-wissenschaft, Germanistik.

Dramaturgin (Burgtheater, Festwochen Wien, Salzburger Festspiele), Leiterin des Festivals Theaterformen Hannover.

Intendantin des steirischen herbst seit 2006, bis 2014.



Michael Tschida
wukonig.com