Wiener Zeitung - 21.09.2012

"Ist das nun Kunst oder Politik?"

Kurator Florian Malzacher über ernste Inhalte und brüchige Grenzen.



300 Künstler und Aktivisten aus aller Welt beim Marathon-Camp zur Eröffnung des steirischen herbst

Petra Rathmanner aus Graz

≥Wiener Zeitung„: Der steirische herbst eröffnet heute, Freitag, mit einem Festival im Festival. Unter dem Titel ≥Truth is concrete„ findet sieben Tage lang rund um die Uhr ein Marathon-Camp statt. Warum eigentlich?

Florian Malzacher: In der zeitgenössischen Kunst wird im Augenblick das Verhältnis von Kunst und Politik neu untersucht. Da finden gerade große Verschiebungen statt, was angesichts der ungelösten Krisen auf der Welt nicht weiter verwundert. Beim Marathon-Camp untersuchen wir Schnittstellen zwischen zeitgenössischer Kunst und politischem Aktivismus. Interessant wird es für uns vor allem dann, wenn man nicht mehr mit Sicherheit sagen kann: Ist das nun Kunst oder Politik?

W elches Ziel verfolgen Sie mit dem Projekt?

Auch wenn das Setting spielerisch ist: Es geht um ernste Inhalte. Im Austausch soll Neues gelernt, vermittelt, erarbeitet werden, das hinterher zu neuen Ansätzen und Projekten führen kann. Andernfalls wäre der ganze Aufwand wohl vergeblich.

Das Motto der Veranstaltung lautet ≥Wahrheit ist konkret„. Wie ist das Brecht-Zitat zu verstehen?

Als Provokation, gewissermaßen. In den vergangenen Jahrzehnten haben wir uns darauf verständigt, dass es keine einfachen, allgemein gültigen Wahrheiten mehr gibt. Zugleich existieren aber konkrete Erfahrungen im Alltag, die diesem sehr abstrakten Zugang zuwiderlaufen: Wenn jemand stirbt oder misshandelt wird ˆ dann ist das eine sehr konkrete Wahrheit, auch wenn die Ursachen dafür komplex sein mögen. Beim Camp geht es um diesen Spagat: komplexes Denken nicht zu vereinfachen ˆ aber sich auf vor dem Konkreten nicht zu drücken.

Wie wichtig sind dabei politische Visionen?

Wir müssen uns ja nicht auf eine bestimmte Utopie oder Ideologie einigen. Dennoch stellt sich angesichts der weltweiten Krisen die Frage sehr drastisch, in was für einer Art von Gesellschaft wir leben, wie wir regiert werden wollen. Wir befinden uns in einer Umbruchsphase, und die Suche nach neuen Lebens- und Politikzusammenhängen ist für viele Künstler zentral geworden. Es ist ja deutlich geworden, dass es nicht mehr reicht, pragmatisch da und dort ein bisschen am neoliberalen Wirtschaftsmodell herumzubessern. Wir müssen über grundlegendere Veränderungen nachdenken.

Wie haben Sie die Mitwirkenden des Camps gefunden?

Wir sind an viele der Orte gefahren, an denen im vergangenen Jahr politische Umbrüche oder Demonstrationen stattgefunden haben, und haben dort mit Künstlern gesprochen ˆ beispielsweise am Kairoer Tahrir-Platz, an der New Yorker Wall Street. Nicht alle Künstler, die wir eingeladen haben, konnten auch kommen, manche erhielten im letzten Augenblick keine Ausreisegenehmigung und auch mit dem Umfeld der russischen Künstlergruppe Pussy Riots waren wir im Gespräch.

Warum treten viele der eingeladenen Künstler im Kollektiv auf?

Die Frustration mit herrschenden politischen Systemen hat viel mit der Repräsentation durch Einzelpersonen zu tun. Das ist vielleicht ein Grund, weshalb sich Gegenbewegungen als Kollektiv formieren. Daneben gibt es charismatische Einzelpersonen, etwa den ehemaligen Bürgermeister von Bogota, der ebenfalls in Graz auftritt. Antanas Mockus würde sich jedoch vehement dagegen wehren, als Ikone bezeichnet zu werden.

Zur Person

Florian

Malzacher

ist seit 2006 leitender Dramaturg und Kurator des steirischen Kulturfestivals, 2013 übernimmt er die Leitung des Theaterfestivals Impulse in Nordrhein-Westfalen. nrw

Bild: Auf Wahrheitssuche: Im Camp ≥Truth is concrete„ wird die Schnittstelle von Kunst und Politik untersucht. Im Bild: der Aktionist Bill Talen alias Reverend Billy bei einer Protestaktion. Rev. Billy Tcc


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