Kronen Zeitung - 12.09.2012

170-Stunden-Suche nach Wahrheit

Der "steirische herbst" startet am 21. 9. mit Marathon-Camp in der Thalia Graz:



Noch üppiger kann ein Programm nicht sein: Der "steirische herbst" eröffnet mit einem siebentägigen Rund-um-die-Uhr-Camp. Diese Zeit nehmen sich Künstler, um zu fragen, welche Rolle die Kunst im Polit-Aktivismus spielt. Getreu dem Festivalmotto "Die Wahrheit ist konkret", wird untersucht, wie Kunst sich in konkreten Situationen engagiert, und ob sie "nützlich" sein kann.

Reverend Billy und die Church of Stop Shopping: Antikapitalismus im Gewand der Gospel-Begeisterung.

Minimale Eingriffe in den Stadtraum mit Symbolkraft: Paul Harfleet pflanzt in seinem "Pansy Project" Stiefmütterchen an Orten, wo es zu Gewalt gegen Homosexuelle gekommen ist. Er wird im "herbst"-Camp darüber sprechen und auch in der Stadt aktiv werden.

Frage ist, ob Kunst selbst in solchen Bewegungen eine Rolle spielen kann."

Mit den Slogans "Empört Euch!" und "Engagiert Euch!" hat der altersweise Diplomat Stéphane Hessel die Losung der Gegenwart ausgegeben. Die Wut über die Verhältnisse ist im Bürgertum angekommen, die ökonomischen, ökologischen, und humanitären Krisen der Welt benötigen mehr denn je Widerspruch. Festival-Dramaturg Florian Malzacher: "Künstler waren bei Protestbewegungen weltweit an erster Stelle dabei. Die

Im Marathon-Camp gibt es statt des üblichen, formal und zeitlich eng eingegrenzten Festival-"Frontalunterrichts" durch Performances, Konzerte und Theater einen offenen Betrieb, eine "rigide Maschine", wie Malzacher es nennt: Taktikgespräche von Künstlern und Aktivisten, Themenabende mit Filmen und Diskussionen; Versammlungen, wo das Geschehene und Gesehene reflektiert wird, unterbrochen wiederum von kleinen Aufführungen und Konzerten.

Das Spektrum ist breit: Die ukrainische Gruppe Femen, die mit ihren Protestaktionen oft für Schlagzeilen sorgt, ist ebenso geladen wie Reverend Billy aus den USA, der im Stil eines Fernsehpredigers in der Öffentlichkeit Konzerne und Banken kritisiert. Auch das Publikum soll sich einbringen: Etwa bei einem "Protestchor", des ägyptischen Theatermachers Salam Yousry.

Beteiligen können sich auch die, die einen alten Schrank oder Tisch spenden möchten. Das Planerduo Andrea Hofmann und Jan Liesegang alias "raumlaborberlin" hat das Festivalzentrum gestaltet und sucht noch Möbel, die tagsüber bei der Thalia abgegeben werden können. Für das Camp haben die beiden Übergangs- und Ruhezonen geschaffen: Alte Kisten sind zu Betten umfunktioniert, die Besucher und Akteure einladen, sich eine Auszeit zu nehmen. "Wir wollen den Tag-Nacht-Rhythmus der Teilnehmer zerreißen", sagt Hofmann. Vor die Thalia kommt das "Bloghouse", ein Sendeturm, den Radio Helsinki nutzt.

Dass das 170-stündige Non-Stop-Programm eine totale Überforderung aller Beteiligten - Publikum, Künstler, Organisation - darstellt, ist auch ein schöner Beleg dafür, wie man innerhalb eines Festivals gewohnte Abläufe der Kunst-Rezeption in Frage stellen kann und stattdessen etwas setzt, das auch ins Improvisatorische kippen kann, wo das Unerwartete Platz hat. Nach dem Camp gibt es noch zweieinhalb "reguläre" Festivalwochen mit Theater, Ausstellungen usw.

Möglich wird das alles nicht nur durch Subventionen (vom Land gab es wieder eine Sonderförderung), sondern auch durch Sponsoren, wobei die Schuhmarke "Legero" als neuer Hauptsponsor firmiert.

Infos: www.steirischerherbst.at; truthisconcrete.org



MARTIN GASSER UND SONJA RADKOHL
wukonig.com