Kleine Zeitung - 13.06.2012

"steirischer herbst 2012" mit Marathon-Camp

"Truth is concrete", heißt es beim steirischen herbst 2012. Unter anderem prüft man in einem illustren Marathon-Camp, wie und was engagierte Kunst verändern kann.



Bert Brecht hatte 1934 in seinem dänischen Exil auf einen Deckenbalken seines Arbeitszimmers mit Kreide geschrieben: "Die Wahrheit ist konkret." Diesen Satz nimmt der steirische herbst heuer als Impuls, um über Möglichkeit und wohl auch Unmöglichkeiten konkreter Wahrheit(en) nachzudenken.

Im Englischen ist diese Behauptung freilich noch vieldeutiger: "concrete" kann "wirklich" genauso heißen wie "Beton". Und den sah man zuletzt häufig bröckeln: in Fukushima, bei den Schweigemauern der Risikobanken oder während der Dammbrüche im Arabischen Frühling.

Das Festival will als Reaktion auf Katastrophen und Umbrüche die Frage stellen: "Kann und soll es eine Kunst geben, die nicht nur beobachtet, kommentiert und dokumentiert, sondern sich auch ganz konkret engagiert?"

Ein solches Engagement wird im sogenannten 24/7-Marathon-Camp erprobt: 150 Künstler, Wissenschaftler und Aktivisten und dazu 100 junge Stipendiaten werden in der Thalia und gegenüber in der Galerie Zimmermann Kratochwill 168 Stunden lang nicht nur "lagern", sondern produzieren, debattieren, performen et cetera. Künstlerische Strategien in der Politik und politische Strategien in der Kunst zeigen Leute wie Srda Popovi, die Zentralfigur der Studentenbewegung "Otpor!", die den serbischen Diktator Slobodan Miloevi zu Fall brachte. Oder Antanas Mockus: Der ehemalige Bürgermeister von Bogotá tauschte in der hoch kriminellen Hauptstadt Kolumbiens korrupte Polizisten durch Pantomimen aus, die den Verkehr regelten - nicht nur mit dem Effekt, dass es um die Hälfte weniger Unfälle gab.

Das Camp wird aber nicht nur Tag-und-Nacht-Denkstätte sein, sondern auch Küche und Bibliothek, Radiostation, Filmsaal und Karaoke-Bar, kurz: das bunteste Festivalzentrum bisher.

Den Fragen nach konkreter Wahrheit gehen die Tanz-Schwerpunkte genauso nach wie die vielen lokalen Partner von Kunsthaus über bis zu Medienturm oder die herbst-Ausstellung "Adaptation", bei der die zwei Prager Zbynék Baladrán und Vit Havránek zu einer offenen Laborsituation einladen.

Statt des üblichen Eröffnungsfests in der List-Halle gibt es heuer ebendort ein großes Finale mit Heiner Goebbels' Musiktheater "When the mountain changed its clothings", in dem der Jugendchor "Carmina Slovenica" aus Maribor von den Mühen des Erwachsenwerdens erzählen wird.

Intendantin Veronica Kaup-Hasler und Florian Malzacher, letztmalig als Dramaturg aktiv, können sich beim 3,6-Millionen-Budget über den bisher höchsten Sponsorenanteil freuen und damit im Brecht'schen Sinn der Wahrheit noch dichter auf der Spur sein: "Sie muss sinnlich und geistig erfahrbar sein" und "Sie lässt sich nur mit List verbreiten."


Michael Tschida
wukonig.com