Der Standard - 28.09.2012

Es ist (nicht), was es ist

Feinste Tonhöhenunterschiede im Zentrum des diesjährigen Musikprotokolls



Es genügt vollkommen, eine Zeit lang Blockflöte gelernt zu haben, um den schwierigen Begriff der enharmonischen Verwechslung zu verstehen: Nur weil am Beginn eines Stückes ein paar Kreuz-Vorzeichen stehen, präsentiert sich das altbekannte Es plötzlich als Dis. Der Griff ist derselbe, der Ton folglich auch. Oder nicht?

J. S. Bach hätte sich über sein wohltemperiertes Klavier nicht erst ein Notenbüchlein lang gefreut, wäre auch in der reinen Stimmung jeder Ton wie der andere, oder besser: wie der mit dem anderen Vorzeichen. Genau genommen klingen gleiche Töne nämlich je nach Tonart gar nicht gleich. Das sind die feinen Unterschiede, die zwischen Geigern und Pianisten bestehen - und denen sich das Musikprotokoll im Steirischen Herbst 2012 verschrieben hat. Praktisch, physikalisch, aber auch als Metapher: ≥Die Wahrheit des Klangs ist nicht absolut„, heißt es im Leitfaden zum Programm, das vor allem im Camp stattfindet. Die Bedeutung der Welt kann sich verändern, so wie die Bedeutung eines Klanges - ohne dass der Klang selbst sich verändert.

Handverlesene Schar

Das Musikprotokoll ist ein Festival im Festival, getragen vom ORF, umsichtig kuratiert von Christian Scheib und Susanna Niedermayr, denen es auch heuer gelungen ist, eine handverlesene Schar avancierter Ausnahmemusiker nach Graz zu holen. Cantus Ensemble und Ensemble Zeitfluss bringen insgesamt sechs Uraufführungen von Komponisten aus Graz und Zagreb mit, das Arditti Quartet hebt unter anderem ein Auftragswerk von Rebecca Saunders aus der Taufe, und das Klangforum Wien ermöglicht eine weitere Musikprotokoll-Begegnung mit neuen Tönen von Peter Jakober.

Aber auch in der neuen Musik fransen die einst so deutlich gezogenen Grenzen zwischen E und U langsam aus: Unter dem Titel Instrumentarium I spinnt der deutsche Komponist Boris Hegenbart Gestaltungsprinzipien der Dub-Musik weiter. Gemeinsam mit Martin Brandlmayr, Felix Kubin, Martin Siewert und Marc Weiser bringt er sein Dub-Projekt nun erstmals auf die Bühne und verwandelt diese in ein Tonstudio, in dem - live - Musik wie für die Konserve produziert wird.

Ähnlich kreativ verfährt Turntablist dieb13 mit Musik (bzw. Musik-Geschichten) von John Cage. So entsteht neben anderem eine der Musikprotokoll-Installationen. Für eine andere zeichnen Reni Hofmüller, Christian Lammer und Jogi Hofmüller verantwortlich - und das Grazer Lichtschwert, das dabei zur Antenne für eine Zufallskomposition wird: etwas andere Radiokunst fürs Kunstradio.

Musikprotokoll, 4.-7. 10., Camp


Hermann Götz
wukonig.com