Kann Kunst als soziales und/oder politisches Instrument eingesetzt
werden? Sollen sich Künstlerinnen und Künstler mittels von ihnen
formulierten Strategien in sozialpolitische Krisensituationen
einschalten? Die Vergangenheit und gegenwärtige internationale
Ereignisse zeigen, dass Künstler sich politisch engagieren. Von den
vielen erfahren wir zumeist nur, wenn Aktivistinnen und Aktivisten
Repressionen ausgesetzt sind wie Ai Weiwei oder Pussy Riot.
Wenn österreichische neoliberale Neopolitiker höchst enerviert damit
„drohen“, die Gesellschaft mit einem quasi ideologischen Programm, das
der „Wahrheit“ geschuldet sei, zunächst in ihrem Wahlkampf zu
konfrontieren, erscheint es mehr als angebracht, dass der Steirische
Herbst mit einem nicht weniger fragwürdigen, gleichwohl sarkastischen
Motto dagegen hält: Truth is concrete. Anders als achtzigjährige
Politikeinsteiger zeigt sich der Herbst allerdings skeptisch gegenüber
einem absoluten Anspruch auf konkrete (fassbare) Wahrheit und ob solche
inmitten von Wirklichkeiten gefunden werden kann.
In einem groß angelegten Symposion, dem „Marathon-Camp“ im
Festivalzentrum in und um die Thalia in Graz, werden vom 21. September
an über 170 Stunden nonstop rund 250 Künstler, Aktivisten und
Theoretiker referieren, performen, mit dem Publikum diskutieren und nach
effektiven Strategien von Kunst in der Politik und politischen Taktiken
in der Kunst suchen. Zudem sind im Rahmen eines Stipendiatenprogramms
100 Studierende, Künstler und Aktivisten eingeladen. Zur Eröffnung um
14.00 Uhr wird Tim Etchells, Autor und bildender Künstler aus
Großbritannien, vortragen, unterstützt vom Performer Jerry Killick (GB).
Ebenfalls am Eröffnungstag folgt ein „Crash-Kurs für Ausländer“ von
Herwig G. Höller (A), der in einem Videovortrag österreichische
Politiker vorstellt. Empfohlen sei hier noch eine Diskussion, die von
Chantal Mouffe (GB/B) am 23. 09. geleitet wird und die Politiken
künstlerischer Praxis beleuchten soll (detailliertes Programm unter
www.steirischerherbst.at/2012/deutsch/programm/remixer.php).
Festivalzentrum
Das Camp Festivalzentrum wurde entworfen und wird gerade errichtet vom
ArchitektInnenkollektiv raumlaborberlin. 1999 als Arbeitsgemeinschaft
für Architektur, Kunst, Planung und Aktion gegründet, arbeitet die
neunköpfige Gruppe vorwiegend zu Themen temporärer Architektur und
Urbanistik. Jüngste Projekte sind beispielsweise das „Salotto Urbano“ im
historischen Zentrum der 2009 von einem Erdbeben weitgehend zerstörten
italienischen Stadt L’Aquila. Als verbindendes Element zwischen Platz
und städtischem Umraum kann dieses entsprechend den Jahreszeiten
aufklappbare „offene Haus“ für Theaterinszenierungen, Diskussionen,
Workshops oder Konzerte genutzt werden. Zur Gänze aus Altmaterial
errichtet wurde dagegen die „Officina Roma“, quasi ein physisches und
temporäres Statement gegenüber Lebensstilen, die auf Wettbewerb,
Wachstum und Ausbeutung natürlicher Ressourcen basieren. Soeben in Turin
eröffnet wurde „Cantiere Barca“, ein Treffpunkt für junge Menschen, der
unter Beteiligung von Jugendlichen entworfen und errichtet wurde.
Für den Steirischen Herbst 2008 gestalteten raumlaborberlin die
Explosionsplastik „moderato cantabile“ vor dem damaligen Zentrum
Joanneum. Grandios, unterhaltsam und höchst sophistiziert war 2009 der
„Tempel der Vernunft“, eine Versuchs- und Raumanordnung, die in
Zusammenarbeit von Theater im Bahnhof und raumlaborberlin die
Helmut-List-Halle ausfüllte.
Das Konzept für das Camp im diesjährigen Herbst stammt von Benjamin
Foerster-Baldenius, Andrea Hofmann und Jan Liesegang. „Architektur“,
sagte Liesegang während der Pressekonferenz im Thalia-Café, verstehen
raumlaborberlin „als politische Arbeit“. Auf dem Areal zwischen Thalia
und Opernring 7 zeichnet sich diese Haltung offenbar darin ab, dass Ein-
und Anbauten wie schon bei der „Officina Roma“ ausschließlich mit Alt-
bzw. Gebrauchtmaterial vorgenommen werden. Im Fall der Thalia ein
auffälliger Kontrast zwischen dem Stahlträgerskelett des neuen Überbaus
und den aus gebrauchten Möbel, Holz- und Papppanelen gebauten Info- und
Kartenbüro. Entwurf und Bauweise des Camps versinnbildlichen für
raumlaborberlin, in Assoziation mit dem Motto „Truth is concrete“, „ein
Unbehagen angesichts situierter Gesellschaften wie der österreichischen
gegenüber den Krisen und Revolutionen infolge eines neuen
Konservativismus und globalen Kapitalismus“. „Die Krise“, meint Jan
Liesegang, „zieht sich bis in die gerade noch existierende
Mittelschicht“.
Überall soll man schlafen können. Während des Tag und Nacht
ununterbrochen geführten Marathon-Camps steht ein improvisiertes Hotel
mit 110 Betten zur Verfügung, außerdem Schlafstellen in der Nähe von
Bühnen und Auftrittsorten. Man könnte also ständig anwesend sein, auch
wenn man gewissermaßen abwesend ist.
Die Thalia-Bar wird zum zentralen Diskussionsraum. Radio Helsinki
betreibt ein Festivalradio, Studio und Sendeanlage werden in einem
gerade aus gebrauchten Fenstern errichteten gläsernen Turm mit 300
Quadratmetern Fassade, dem „Bloghaus“, untergebracht sein. Das Camp
bietet außerdem Raum für Lailas Bar, ein Wohnzimmer, den Black Cube und
den White Cube, ein Videoarchiv, einen Frisiersalon und einen
Ausstellungsraum (im Haus der Galerie Zimmermann-Kratochwill).
Herbst-Ausstellung
Kunst und Politik sind auch Thema der Ausstellung „Adaptation“. Als
solche wird eigentlich die Anpassung des Auges an Leuchtdichten im
Gesichtsfeld bezeichnet. Die Prager Künstler und Kuratoren Zbyněk
Baladrán und Vit Havránek haben unter diesem Aspekt keine Ausstellung
vorbereitet, vielmehr wird am Opernring 7 in Zusammenarbeit mit
eingeladenen Künstlerinnen und Künstlern ein Labor eingerichtet. Eine
Materialsammlung wird wieder und wieder adaptiert, um in zahlreichen
Variationen die Beziehungen und Verhältnisse zwischen Kunst, Künstlern,
Kuratoren, Publikum und Raum durchzuspielen.
Diese und weitere Ausstellungen der assoziierten Galerien und
Kunstvereine werden – nach Ende des Camp-Marathons – am 29. September
eröffnet.
Gala
Anders als bisher, steht am Beginn des diesjährigen Festivals keine
Generaleröffnung. Als erster Programmpunkt geht der Camp-Marathon am 21.
September um 14.00 Uhr schlicht los. Allerdings wird mit einer Gala am
28. in der Helmut-List-Halle eine Kampagne unter dem Titel „Rebranding
European Muslims“ eingeleitet. Das internationale PR-Projekt der
israelischen Performance- und Recherche-Gruppe Public Movement verbindet
künstlerische Elemente mit den Instrumenten einer politischen
Branding-Kampagne, mit der Werbeagenturen aus Istanbul, Amsterdam und
Wien betraut sind. Thematisiert werden Muslime als Teil europäischer
Bevölkerungen, die nach wie vor als Fremde inmitten europäischer
Kulturen und Gesellschaften empfunden werden. Zum Abschluss der Gala
konzertiert die islamische Punkband The Cominas aus Massachusetts, die
damit ihren ersten Auftritt in Österreich gibt.
„Truth is concrete“, Steirischer Herbst vom 21.09. bis zum 14. 10. 2012 www.steirischerherbst.at