Kleine Zeitung - 22.09.2012

Der Jetlag und die Außenwelt



Gong! Es geht los. Jerry Killick, Schauspieler bei Forced Entertainment, übernimmt die Aufwärmrunde und lässt die Teilnehmer die Namen inspirierender Personen und brennende Fragen in den Raum rufen, zum Schluss muss jeder bis zu einer frei gewählten Zahl zählen und dann ≥Now!„ rufen. ≥Now!„, ≥Now!„, ≥Now!„ ˆ aus dem Englisch, der unausweichlichen Verkehrssprache im Camp, kann man Unterschiedlichstes heraushören: Russisch, Amerikanisch, Französisch, Arabisch, Spanisch. Von Künstlern, Theoretikern, Aktivisten.

Der Camp-Motor startet zögerlich und stotternd, aber er beginnt zu laufen, (fast) unaufhaltsam: Sieben Tage lang, 24 Stunden pro Tag dauert das Programm im Festival-Basislager Thalia, 170 Stunden am Stück. Für die strenge Einhaltung des Stundenplans wird der Gong zum wichtigen Instrument.

Als ≥sozialen Raum mit seinen eigenen Bedürfnissen und seinem eigenen Takt„ bezeichnet Dramaturg Florian Malzacher das Camp in seinem Eröffnungsstatement: ≥Truth is Concrete wird eine einwöchige Gesellschaft schaffen, für die sich Tag und Nacht vermischen und die ihren eigenen Jetlag gegenüber der Außenwelt entwickelt.„ Dann noch ein Tipp für weit gereiste Teilnehmer: ≥Wenn ihr aus einer anderen Zeitzone kommt, behaltet sie doch einfach bei.„

Basislager im Möbel-Haus

Das herbst-Basislager ist ein Ort, an dem es sich rund um die Uhr aushalten lässt. Mit Sperrmüll und Hausrat-Spenden hat das deutsche ≥Anarchitekten„-Team raumlaborberlin die Thalia aufgemöbelt und überall, sogar auf der Bühne, kleine Kojen für Schlafbedürftige eingebaut. Aus alten Fenstern wurde ein Turm, aus Sitzpölstern ein DJ-Pult, aus einem Furnier-Fleckerlteppich die Rückwand der ≥Laila‚s Bar„ ˆ vielleicht das heimliche Herzstück des Camps, neben dem ≥Black Cube„ im Jugendtheater Next Liberty natürlich, in dem die Performances und Vorträge stattfinden. Schöner Nebeneffekt: Thalia und Next Liberty sind nach einer jahrelangen Rücken-an-Rücken-Existenz wieder eins geworden.

In Ausnahmezeiten wie diesen wird auf eine offizielle Eröffnung verzichtet, am Abend sind dennoch auffallend viele Politiker gekommen ˆ es ist Wahlkampfzeit. ≥Ich eröffne das Camp nicht, es ist bereits offen„, sagt Intendantin Veronica Kaup-Hasler im informellen Willkommensgruß. Und zwar bis nächsten Freitag, 24 Stunden am Tag, bei freiem Eintritt. Besuch dringend angeraten!


NINA MÜLLER, JULIA SCHAFFERHOFER
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