gat.st - 14.06.2012
Steirischer Herbst 2012 – Die Wahrheit ist konkret und Beton eine Lüge
Diesmal, sagt Intendantin Veronica Kaup-Hasler, ist alles anders. Keine
der bisher üblichen Eröffnungen steht dem diesjährigen Steirischen
Herbst voran, stattdessen ein einwöchiges „24/7-Marathon-Camp“ unter dem
Leitmotiv „Die Wahrheit ist konkret“. So nämlich zitierte Bertolt
Brecht Lenin, der seinerseits Hegel zitierte.
In ihren Recherchen zum aktuellen Festival – um die Revolutionen in den
arabischen Ländern, die Occupy-Bewegung, europäische Wirtschafts- und
Finanzdebakel – zeigte sich, dass Künstlerinnen und Künstler unter
Einsatz ihrer Mittel und mit naturgemäß kritischen Zugängen allenthalben
beteiligt sind beziehungsweise Stellung nehmen. Daraus entstand die
zentrale Frage, wie weit die Kunst als Sensor zwischen Politik und
Gesellschaft fungieren kann. Dass „Kunst“ „ein linkes Hobby“ sei, wie
sich der holländische Rechtsaußen-Politiker Geert Wilders ausließ,
dürfte über die Programmatik des „Marathon-Camps“ anschaulich widerlegt
werden: Bisher sind etwa 150 KünstlerInnen, -gruppen, TheoretikerInnen
und AktivistInnen für den Start gemeldet, um sich sieben Tage lang und
rund um die Uhr über Vorträge, Debatten, Performances, Ausstellungen
etc. in diesem „Lebensraum auf Zeit“ mit den Strategien der Politik und
politischen Strategien in der Kunst auseinander zu setzen.
Das „Camp“ wird als begeh- und bewohnbares Ensemble im Bereich zwischen
Thalia und der Galerie Kratochwill von raumlaborberlin (D) eingerichtet.
Darin befindet sich etwa ein „Mobiler Salon“ von The HairCut before The
Party (GB) – der HairCut ist kostenlos, der Friseur bietet sich
allerdings als politischer Gesprächspartner an. Katherine Ball (USA)
legt den „Garten des biologischen Ungehorsams“ an und aus dem „Studio
24/7“ senden Radio Helsinki und andere freie Radios. Weiters werden im
„Camp“ Workshops zu direkten Aktionen gehalten, internationale Grafiker
und Streetartists gestalten Flugblätter, Zeitungen und Postkarten.
Unterkunft findet das „Mobile Archiv“ des Israeli Center for Digital
Art, eine kontinuierlich wachsende, nomadisch agierende Videothek. Mit
Buch-Piraterie beschäftigt ist The Piracy Project aus Großbritannien,
die um eine Sammlung angeeigneter, veränderter oder kopierter Bücher von
Künstlern aus aller Welt Probleme um Urheberschutz, Original und Kopie
verhandeln. Angekündigt sind auch Blogs und Gespräche von und mit
internationalen AktivistInnen unter dem Titel „How to change the world –
or last fight for it“.
Der Ausstellungsrundgang zu bildenden Kunst findet diesmal erst am 21.
September statt. Im Rahmen dessen gibt es zunächst keine Ausstellung,
vielmehr entwickeln die Prager Kuratoren Zbynĕk Baladrán und Vit
Havránek mit „Adaptation“ und in Zusammenarbeit mit KünstlerInnen eine
Art Labor zu Kollaborationen, Hierarchien und Strukturen, die in
Ausstellungen münden können.
Das Kulturzentrum bei den Minoriten widmet sich unter dem Titel „Nicht
von hier“ Leben und Werk des steirischen Malers Alois Neuhold. Kritische
Arbeiten zu gesellschaftlichen Themen wird der Kunstverein Medienturm
zeigen, die Vision einer Republik bearbeitet in „Absolute Democracy“.
Nach der gerade laufenden Ausstellung zum Werk von Michelangelo
Pistoletto im Joanneumsviertel befasst sich das Kunsthaus im herbst mit
dessen Arbeits- und Forschungsgemeinschaft Cittadellarte. Rechtsextreme
und populistische Politik und künstlerische (Re-)Aktion sind Thema im
Grazer Kunstverein. Wenn die Kunst „konkret“ ist, fragt man sich in der
Camera Austria, ist „Wahrheit“ dann auch konkret? Eine mögliche,
wenngleich kryptische Antwort könnte voraus schon Josef Schützenhöfers
Statement sein, einer der Teilnehmer im „Camp“: „IF TRUTH IS CONCRETE,
DANN IST BETON EINE LÜGE“
Neben etlichen weiteren Produktionen in der Abteilung
Musiktheatralisches: Heiner Goebbels (D) bringt „When the mountain
changed ist clothing“ mit Carmina Slovenica (Slo), einem Chor von 40
jungen Sängerinnen, zur Erstaufführung. In Texten von Josef Eichendorff
bis Marina Abramović geht es um den Abschied von der Kindheit.
Ein Hinweis noch auf das musikprotokoll: Wie die Kategorien von
Klangkunst, Musik, bildender und Medien-Kunst obsolet werden, zeigen
Reni Hofmüller, Christian Lammer und Jogi Hofmüller (A), die Hartmut
Skerbischs Lichtschwert zur Sende- und Empfangs-Antenne umfunktionieren.
Form und Höhe beinflussen elektromagnetische Wellen. Eine
Klangkomposition wird über das Lichtschwert gesendet und an
verschiedenen Orten der Welt empfangen. Von dort wird die angekommene
Information wieder zurückgeschickt und über das Lichtschwert empfangen.
Das Medium dürfte die Botschaft wohl verändern, was ankommt ist
Information – aber welche?
Wenzel Mracek
wukonig.com