Salzburger Nachrichten - 21.09.2012

Künstler im Widerstand



steirischer herbst. Kann Kunst die Welt verändern? In Graz wird darüber sieben Tage und Nächte lang in einem Camp diskutiert.

Martin Behr Graz (SN). In seinem Leitmotiv zitiert der steirische herbst heuer Brecht, der Lenin zitiert, der Hegel zitiert: ≥Die Wahrheit ist konkret.„ Konkretes Handeln in einer von politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbrüchen geprägten Welt steht auch im Fokus eines siebentägigen ≥Marathon-Camps„, mit dem das steirische Festival für Gegenwartskunst heute, Freitag, eröffnet wird. Künstlerische Strategien werden erläutert, auf theoretische Befunde und hehre Grundsatzreden wird man ebenso vergeblich warten wie auf die obligat feuchtfröhliche Eröffnungsparty.

Vom repräsentativen Ambiente der List-Halle in die Baustelle Thalia: Schon die Wahl des Orts für das Marathon-Camp ist Programm. ≥Heuer mit diesem Programm in die List-Halle zu gehen wäre ein fatales Zeichen gewesen„, erklärt die herbst-Intendantin Veronica Kaup-Hasler im SN-Gespräch. Künstler, Studierende, Aktivisten werden sich 170 Stunden lang vor dem Hintergrund des ≥arabischen Frühlings„, der Weltwirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit, von Umweltkatastrophen, dem Aufflammen von religiösem Fundamentalismus sowie dem Entstehen von Protestbewegungen von unten der Frage stellen, ob und wie Kunst zur Problembewältigung beitragen kann. Und ob Kunst überhaupt ein politisches oder soziales Werkzeug sein kann.

≥Die Kunst wird die großen grundsätzlichen Missverhältnisse in unserer Welt nicht verändern können„, erklärt Kaup-Hasler. Aber der Umstand, dass bei der Entstehung vieler Protestbewegungen Kunstschaffende eine aktive Rolle spielen, unterstreiche die Rolle der Künstler als Seismografen: ≥Sie verstärken das Unbehagen, den Zorn, können ihn bündeln und ihm durch eine kreative Sprache eine Form geben.„ Zudem gelinge es den ≥sehr genau beobachtenden Künstlern„ auch, mit Esprit, Witz und Ironie sowie über soziale Netzwerke wie Facebook oder Twitter Öffentlichkeiten herzustellen.

Die Nonstop-Revue jener, die im Aufbegehren, im Sich-nicht-abfinden-Wollen geschult sind, kommt am Standort Graz einem Nachhilfeunterricht für das offensive Mündigsein gleich. ≥Wir leben in Österreich in einem bis hin zur Agonie extrem sozialpartnerschaftlich geprägten Land„, sagt die herbst-Intendantin, die aber dem Leben in der Alpenrepublik auch viel Positives abgewinnen kann: ≥Bei allem Frust über Korruption und anderes Fehlverhalten ist Österreich aber immer noch eine Demokratie, wenn auch eine unvollkommene.„ Hier, wo ≥der Glaube an die Demokratie zunehmend verloren geht„, sei es besonders wichtig, wahrzunehmen, wie es anderenorts ≥in der Welt bestellt ist„. Dadurch solle auch Mut vermittelt werden: ≥Wir alle könnten so viel mehr tun.„

≥Unsere Politiker können etwa viel von Antanas Mockus lernen, der als Bürgermeister von Bogotá etwa korrupte Polizisten durch Pantomimen ersetzt hat, die auf unkonventionelle Weise zur Einhaltung der Straßenverkehrsordnung animiert haben„, betont Kaup-Hasler, die rund 250 Aktivisten, unter ihnen auch den kolumbianischen Politiker und Philosophen, eingeladen hat. Erwartet werden auch die Mitglieder der feministischen Agitprop-Gruppe Femen aus der Ukraine sowie Aktivistinnen aus dem Pussy-Riot-Umfeld. Stichwort Pussy Riot: ein Musterbeispiel, wie, so Kaup-Hasler, eine ≥kleine Aktion durch dummes Agieren der Mächtigen auf ein unglaublich großes Echo stoßen kann„.

Kaup-Hasler hofft, dass sich die internationale Widerstandsszene in Graz weiter vernetzt und heimische Kräfte partizipieren können. Ein Marathondiskurs als Festivalhöhepunkt: ≥Ein wichtiges Zeitzeichen. Aber ich behaupte nicht, dass das Camp Kunst ist.„

Daten & Fakten

Marathon-Camp in der Grazer Thalia Mit einem Auftaktevent von Tim Etchells von der britischen Theatergruppe ≥Forced Entertainment„ beginnt heute, Freitag, um 14 Uhr das Marathon-Camp im steirischen herbst. Schauplatz ist ein über die Jahre durch Umbauten weitgehend vernichtetes Baujuwel aus den 1950er-Jahren, die Grazer Thalia. Hier werden sieben Tage lang 150 Künstlerinnen, Aktivisten und Wissenschafter performen, debattieren, spielen, produzieren. Eingeladen wurden zudem 100 junge Stipendiaten aus aller Welt, die sich am Diskurs über künstlerische Strategien in der Politik und politische Strategien in der Kunst beteiligen sollen.

Reverend Billy trifft auf Frauenpower Zu den prominentesten Gästen des Camps zählt der New Yorker Kultprediger Reverend Billy. Der Aktionskünstler gilt als wortreicher Kritiker des Kapitalismus. Antanas Mockus, der Ex-Bürgermeister von Bogotá, hat wiederum mit künstlerischen Strategien die Lebensqualität in der von Verbrechen und Korruption geprägten Millionenstadt erhöht. Weiters nach Graz kommen Femen, die Symbolfiguren eines feministisch orientierten Protestaktionismus aus der Ukraine, oder Srda Popovic, eine zentrale Figur der Studentenbewegung Otpor!, die den serbischen Diktator Slobodan

Milosevic zu Fall gebracht hat.

Neue Projekte von Goebbels und Uhlich Der heuer bis 14. Oktober dauernde steirische herbst hat auch abseits des Camps einiges zu bieten:

Auf dem Programm steht etwa die österreichische Erstaufführung von ≥When the mountain changed its clothing„ von Heiner Goebbels und Carmina Slovenica. Doris Uhlich präsentiert ihre Uraufführung ≥Come Back„ und die Young Jean Lee‚s Theater Company lädt zu ≥Untitled Feminist Show„. m.b.



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